Christine Wolter
Straße der Stunden — Via delle Ore
44 Veduten aus dem heimlichen Mailand.
Mit Zeichnungen von Bodo Reiter.
118 Seiten, engl. Broschur, 9,00 Euro.
ISBN 978 3 92181086 6
Mailand. Grau und grell, größenwahnsinnig und grandios. Vom Dach des Doms: nackte steinerne Ausdehnung unterm Dunst, bis zu den Alpen; doch in den Häusern und Straßen glitzern Härte und sieghafte Hässlichkeit. Und irgendwo an einer Ecke, wie bei einer plötzlichen, zarten Berührung, enthüllt die Stadt dem sie Streifenden ihr Gesicht, ihr heimliches und unheimliches Antlitz.
Das fixieren diese Skizzen vom wandelbaren Alltagsgesicht einer Metropole, in das Banales wie Monströses sich eingeschrieben hat; flüchtige Momente auf der Straße machen es sinnfällig: die maßlose Unform und die übervolle Leere dieser Stadt scheinen nur im Detail, im unsensationellen Ereignis fassbar.
Den zähen und dröhnenden Verkehrsstrom durch die breiten Straßen des Zentrums lernt man schließlich ertragen. Unverändert bleibt das Erschrecken an einer kurzen und engen Straße mit dem Namen Via delle Ore, Straße der Stunden. Und es nützt nichts, daß man sich sagt, der Glockenturm an ihrem nahen Ende erkläre mit seinem Stundenschlag deutlich genug solche Benennung. Der Schrecken ist schon zu tief gedrungen. Diese Straße von nicht einmal hundert Metern Länge aus Rückseiten häßlicher Häuser und Brandmauern, nur unterbrochen von einer winzigen, stets leerstehenden Espressobar und einem Schaufenster mit Raucherartikeln, wäre in ihrer entsetzlichen Ausdruckslosigkeit und Nutzlosigkeit die „Straße der Stunden“? Unvorstellbar, daß wir es wagten, diese Straße der Stunden, die schon endet, wo sie beginnt, zu betreten.
Christine Wolter, geboren am 30. März 1939 in Königsberg, aufgewachsen seit 1950 in Berlin Ost, lebt seit 1978 in Mailand und jetzt auch wieder in Berlin. Erzählerin, Übersetzerin (u. a. Leonardo Sciascia, Alberto Savinio) und Herausgeberin (u. a. Lyrik von Giuseppe Ungaretti). Mitarbeiterin der Neuen Zürcher Zeitung. Eigene literarische Arbeiten seit den 1970er Jahren. Zum DDR-„Kultbuch“ wurde der Roman Die Alleinseglerin (1982 bei Aufbau) – vordergründig (und so von der DEFA verfilmt) eine ironische Fabel aus dem DDR-Alltag, vielmehr jedoch ein Bekenntnis gegen jeden Dogmatismus.