Pier Maria Rosso di San Secondo
Wedekind in der Klosterstraße
Feuilletons aus dem verrückten Berlin.
Herausgegeben von Gaetano Biccari.
Aus dem Italienischen von Carola Jensen.
120 Seiten; mit Fotografien von Mario von Bucovich. Euro 13,40
ISBN 978 3 92181079 8
„Berlin erregt mich – und erstickt mich mit rasenden Schatten“, bekannte 1931 der sizilianische Dramatiker und Erzähler Pier Maria Rosso di San Secondo. Man spürt die melancholische Erotik des Flaneurs, verborgen hinter einem genauen, manchmal spöttischen „fremden Blick“, in seinen Feuilletons aus dem heimlichen „Berlin auf dem Vulkan“, die er 1928 bis 1932 für die Turiner Zeitung La Stampa und das Mailänder Magazin Il Secolo XX schrieb. Rossos Stoff sind die Widersprüche im Alltagsgesicht Berlins: zwischen „Amerikanismus“ und „Bolschewismus“, zwischen „Berlin am Meer“ und der mechanischen Hektik im Kaufhaus Wertheim; in den provisorischen Aufenthaltsräumen dieser verückten, entfremdeten Welt faszinieren ihn die Frauen, vor allem die unsentimental-sehnsuchtsvollen zwischen Wedding und Ufa.
Die vorliegende Auswahl ist die erste deutsche Edition.
Berlinerin reinsten Wassers, könnte sie in der Gegend des Alexanderplatzes, im Norden, in Gesundbrunnen oder auch in Spandau geboren sein. Ich aber stelle sie mir am liebsten an der äußersten Stadtgrenze aufgewachsen vor, dort, wo die von hohen schwarzen Fichten umstandenen Seen die Werkstätten spiegeln und die Ausläufer der Stadt sich in den Wald hineinfressen, ein Schauspiel, in dem Natur und Menschen heftig widerstreitende Rollen einnehmen. An dieser Grenze nämlich, und nicht in den ausgebauten Zentren des eleganten Westens wie in der Nähe der Friedrichstraße, findet man den gewalttätigen und anmaßenden Ursprung der alles verschlingenden Metropole. Sie mag ungefähr so aussehen: Robust und kräftig, in manchen Gebärden geradezu herrisch, sehr helle, leicht bernsteinfarbene Haut, dichtes, weißblondes Haar, das, obwohl kurz, die Beschaffenheit einer Mähne hat. Blaue Augen ohne Tiefgründigkeit, aber von der Klarheit sauberen Wassers. Blaßrosa die vollen Lippen. Sie verfügt über liebenswürdige Manieren, kann allerdings weder den Argwohn verbergen, mit dem sie geboren wurde, noch die Schlauheit, die sie erwerben mußte, um im Getriebe dieser riesigen Stadt nicht unterzugehen.
Pier Maria Rosso di San Secondo, geboren am 30. November 1887 in Caltanissetta, Sizilien, gestorben am 28. November 1956 in Lido di Camaiore in der Toskana. Er war ein enger Freund Pirandellos, und in der italienischen Literaturszene der Nachkriegszeit (nach dem Ersten Weltkrieg) einer der umstrittenen Dramatiker der 1920er Jahre und führender Vertreter des Teatro grottesco. Rosso lebte von 1928 bis 1932 in Berlin, dem „Mittelpunkt der Moderne“. Seine Berlin-Feuilletons liegen erstmals in deutscher Übersetzung vor.