Auburtin, Victor - Durchschnitt durch PotsdamVictor Auburtin
Durchschnitt durch Potsdam oder Lob der Langsamkeit
Feuilletons.
Ausgewählt und mit einem Vorwort von Peter Moses-Krause.
Mit Photographien von Fritz Eschen.
52 Seiten, engl. Broschur, Fadenheftung, 8,40 Euro.
ISBN 978 3 93110908 0

Vom „Lob der Langsamkeit“ und vom déja vu einer unseligen Geschichte, im Widerspruch zwischen Sehnsucht nach dem preußischen Arkadien — und seine blaue Kornblume — und Widerwillen gegen das ewig-gestrige Leutnants-Potsdam, dessen Zeitgenosse zu sein der gebildete Feuilletonist Auburtin das Missvergnügen hatte. Potsdam als (europäischer) Geisteszustand …

„Sie brauchen sich nicht zu beeilen“, sagte ich in Potsdam zu dem Droschkenkutscher. „Wir haben Zeit.“
Der Droschkenkutscher drehte sich auf seinem Sitz um und sah mich an; er war ein alter Mann und lachte über das ganze Gesicht: „So etwas“ sagte er, „so etwas hat mir in meinem ganzen Leben noch kein Mensch gesagt. Nun fahre ich hier in Potsdam schon vierzig Jahre; aber immer soll es schnell gehen, weil die Herrschaften immer mit dem Zug um 5 Uhr 45 Minuten zurück wollen.“
Es gibt also Herrschaften, die im Potsdamer Park an den Zug von 5 Uhr 45 denken; auf den großen schlafenden Terrassen der Orangerie. Aber was für Herrschaften gibt es nicht alles! Ich habe zum Beispiel einen Menschen gesehen, der aß Austern und las dabei die Abendzeitung.
Kommende Historiker und Spenglers werden das vielleicht einmal erkennen, daß die Not dieses 19. Und 20. Jahrhunderts durch die Überschätzung der Schnelligkeit zu erklären ist. Die vierundzwanzig geräumigen Stunden des Tages genügen uns nicht zur Abwicklung meist erbärmlicher Geschäfte, und am liebsten möchten wir die Zeit stehlen. Als höchstes Gut gilt der Epoche die Eile …

Victor Auburtin, Journalist und Feuilletonist, passionierter „Tourist“, Katzenliebhaber, geboren am 5. September 1870 in Berlin, „Tod in Rom“ am
28. Juni 1928.
Der Enkel von erzroyalistischen und stockkonservativen katholischen Emigranten aus dem (zu liberalen) Frankreich des Bürgerkönigs Louis Philippe war au contraire ein liberaler Europäer, fühlte sich als Angehöriger zweier Kulturen, der französischen und der deutschen, war Republikaner und Zivilist, abhold Nationalismus und Militarismus. Sein französischer Bewunderer Marcel Ray, einer der großen politischen Journalisten zwischen den Kriegen, nannte Auburtin lakonisch einen „Dichter, Bürger und Europäer“.
Französisches Gymnasium in Berlin, Studium der dt. Philologie und der Kunstgeschichte in Berlin, Bonn und Tübingen. Nach literarischen Anfängen im anti-wilhelminischen Simplicissimus Albert Langens war Auburtin seit 1911 Redakteur und Auslandskorrespondent (in Paris am Vorabend des ersten Weltkriegs, in Bern, Madrid und Rom) bei Theodor Wolffs legendärem Berliner Tageblatt. Seine Causerien – „unterm Strich“ auf Seite 3, jeden dritten Tag – wurden in den 1920er Jahren Vorbild für das ganze literarisch-journalistische Genre Feuilleton.
„Ganz Berlin“ (jedenfalls das liberale und gebildete) las ihn, und seine Feuilletons wurden in der deutschsprachigen Presse von Aachen bis Prag nachgedruckt; Kurt Tucholsky und Kurt Pinthus kritisierten und verehrten ihn, Tucholsky nannte ihn in einem Atemzug mit Theodor Fontane und Arthur Eloesser.