R.B. BardiR.B. Bardi
Der Kaiser / die Weisen und der Tod.
Herausgegeben von Peter Moses-Krause und Irene Tobben.
Mit einem ausführlichen Glossar.
240 Seiten, Engl. Broschur, Fadenheftung, EUR 24,90 €.
ISBN 978 3 931109 70 7

Der Kaiser / die Weisen und der Tod von R.B. Bardi (Pseudonym für Rahel Berdach) wurde erstmals im März 1938 in Wien im jüdischen Saturn-Verlag veröffentlicht. Ein paar Tage später fiel die Nazi-Wehrmacht in Österreich ein. Die Autorin flüchtete nach England, im Gepäck einige Exemplare ihres Buchs, die einzigen erhaltenen.
In London wandte sie sich an Sigmund Freud. „Ihr geheimnisvoll-schönes Buch“ schrieb dieser an die Autorin „hat mir in einem Maße gefallen, das mich meines Urteils unsicher macht“ und er frage sich, ob es an der „ergreifenden Verklärung menschlichen und jüdischen Leidens“ liege.
Es ist aber auch ein Text, der selbst in einer Erzähltradition steht: Am Hof Friedrich II., des Staufers, begegnen sich Ost und West, nicht zuletzt in ihren Religionen Judentum, Christentum und Islam; es handelt also von Gott und der Welt.

Textauszug

Das Ende
Abschied von Asraël Der Rabbi Jakob Charif Benaron verließ sein Turmgemach beinah nicht mehr. Er hatte sich die Ordnung eingerichtet, daß man ihm nur, an jedem Übertag, den Krug mit Wasser vor die Tür stellte, den Wecken Brot und eine Schale Milch und Freitags Wein für seinen Sabbatsegen. Zumeist war auch dies Wenige kaum berührt; die Vögel, denen er die Krumen streute, verzehrten mehr vom Brote als der Greis.
Das harte Lager lockte nicht den Schlaf und kürzte ihn, wenn es ihn schon gewährte. – Der Rabbi hatte sinnend lang gewacht, die Blätter Michaels vor sich auf dem Pult. Sein Blick verweilte auf der letzten Zeile: „HERR, wir sind traurig, weil wir sterben müssen – wir haben Angst …“ Es ging auf Mitternacht als er das Lämpchen löschte; denn streckte er sich seufzend auf das Bett.
Im Fenster stand der Vollmond, der Freund der Träumenden. Absonderlich war diese graue Stille. So gänzlich lautlos war die Gasse nie. Und selbst die Christenstadt lag wie im Schlaf – vielleicht dämpfte der Schnee nur alle Stimmen. Der Rabbi lauschte nach dem Marktgeräusch … kein Ton. Er wartete, daß sich die Glocken rührten … die Kirchtürme waren auch verstummt. Dabei war es doch Tag, es war ja hell, wenn auch das Licht vom Nebel silbrig glänzte … Der Rabbi spürte plötzlich: Diese Stille habe er schon wer weiß wie lang empfunden, sie wurde nur auf einmal ihm bewußt. Kälte von Bangigkeit griff ihm ans Herz. Wo waren alle Leute nur geblieben? Was war denn mit der Stadt – war wieder Krieg? Waren die Bürger alle ausgetrieben, geflohn, getötet und nur er vergessen? Der Rabbi ruft. Zum erstenmal seit langer, langer Zeit hörte er wieder seine eigene Stimme. Sie klingt ihm fremd und wie von ferne und es kommt keine Antwort auf sein Rufen. Er wartet ängstlich eine kurze Weile, dann macht er sich mit Mühe auf den Weg. – Die Stiege ächzt nicht unter seinem Schritt, als sei das alte Holz auch eingeschlafen. Von dem Geländer fällt der Staub herunter, als er die Hände zittrig darum klammert. Aus keiner Stube dringt auch nur ein Laut. Die Haustür knarrt nicht in der losen Angel.
Der Rabbi steht jetzt in der leeren Gasse.
Die Füße, schon des Gehens ungewöhnt, machen nur langsam ungewisse Schritte; sie schleppen an dem Schweigen wie an Blei … Wenn wirklich alle auch geflüchtet wären – der Bethausdiener ist gewiß noch da. Wo sollte denn der alte Mensch auch hin … Er wird die Thorarollen nicht verlassen. Die Rollen – sie sind sicher mitgeführt; sie sind das erste, was man immer rettet. Benaron wendet sich zur Synagoge. Zum letzten Mal ins schicksalsvolle Haus. Die starken Pfortenflügel stehen offen; man sieht durch sie in unerhelltes Dunkel. Die Silberampel für das ewige Licht ist ausgebrannt … das durfte nicht geschehen! Die Ketten, die sie halten, hängen nieder, der Diener hat sie wohl eben füllen wollen. Der Diener lehnt, den Ölkrug neben sich, schlafend in einer Bank zunächst der Tür. Der Rabbi will den Alten schonend wecken und rührt ihn an – der Kopf fällt vornüber. Tobiah schläft nicht. Tobiah ist tot.
Auf einmal sind des Rabbi Füße leicht. Er weiß: ein Ungeheures will geschehen. Er muß sich eilen, jene einzuholen, auf die das unbekannte Schrecknis wartet. Sein Teil an ihrem Schicksal, eh er stirbt … Das Tor der Judenstadt ist nicht bewacht, es steht kein Lanzknecht bei dem Wächterhaus. Der Domplatz ist verödet wie bei Nacht. Die Gäßchen, die zum Flusse führen – sonst war hier stets das dichteste Gedränge – jetzt ist nicht eine einzige Seele da. Der Zöllner sitzt nicht unterm Brückentor. Was ist das mit dem Fluß? Man hört kein Rauschen … Am andern Ufer steigt die Straße steil; Benarons Lunge scheint es nicht zu spüren. Vielleicht floh alles nach der nächsten Burg, die bessern Schutz vor Feinden bieten konnte. Wer war der Feind? Was war die nächste Burg? Ich werde jeden Bauern fragen müssen. Die Äcker liegen holprig unterm Schnee, es weiden keine Herden an den Rainen. Des Rabbi schnelles Gehen wird zum Lauf; ihm ists als lief der Weg, nicht seine Füße. Er kommt durch einen endlos tiefen Forst; kein Windhauch rührt die kältestarren Äste. Im Tal liegt eine gewaltige Pfalz. Vor ihrem Ringwall liegt ein großer Eber, wie wenn er hierher hätte flüchten wollen. Das Tier hat alle Viere ausgestreckt, doch nagen keine Ratten an dem Aas; im leeren Himmel fliegen keine Raben … Es muß doch schon nah am Abend sein; aus keinem Schornstein steigt auch nur ein Rauch, in keinem Haus klappert eine Schüssel …
Wo ist er jetzt? Er kennt die Landschaft nicht. Es ist, als rückten Berge aneinander und drängten sich um die verbrannten Steppen. Berge aus kahlen Felsen, ohne Wald. Das ist wie im Gebirge am Nil … Wie Mauern ragt ihr gelbliches Gestein … Die Toten wohnen dort in Höhlenstädten … Der Fuß des Rabbi stößt an etwas an: zwei Kupfereimer liegen an der Erde, vor etwas Braunem, einem Brunnentrog. Kein Tropfen Wasser ist in dem trocknen Becken. Und dennoch waren Menschen kürzlich hier, im kreidigen Staube sieht man ihre Spuren –
Wo sind die Menschen? Sind denn alle tot?
Der Rabbi springt zurück – er hat begriffen. Mensch und Getier und Pflanze sind dahin, der Tod hat unsere Erde ausgelöscht, nur ihn allein hat Asraël vergessen. Nur er allein lebt in der Riesengruft, umschlossen von den himmelhohen Mauern. Jetzt sind sie ganz um ihn zusammengerückt, er spürt die Kälte der granitnen Quadern … Wo ist die Pforte, die den Turm verschließt? Er muß die Rettung, muß den Ausgang finden, schon dunkelts über dem verlassnen Rund … Der Rabbi tastet sich stolpernd an den Wänden entlang. Kein Falz in dem Gemäuer, keine Tür! Verzweifelt jagt er an den Steinen hin. Asraël kann ja noch nicht fern sein – ein Hauch von Wärme, von dem letzten Leben, hängt ja noch in dem sinternden Gestein. Er tappt – ein schmaler Ausgang tut sich auf … Dort in der leeren Nacht der Ewigkeit verschwinden Asraëls beglänzte Schwingen … Der Rabbi will ihm zurufen: Nimm mich mit! …
Die Hände fahren nach der stummen Kehle.
[…]

Biographische Notiz

R. B. Bardi, ein Pseudonym für Rahel Berdach, wurde 1878 in Budapest geboren; Anfang des 20. Jahrhunderts ging sie nach Berlin und emigrierte 1938 nach London; gestorben ist sie 1961 in Zürich: Jüdin, Journalistin, aus einer der großbürgerlichen Familien stammend, wie sie charakteristisch waren für das ungarisch-jüdisch-deutsche Wien am Vorabend des ersten Weltkriegs.