Béla Balázs
Der heilige Räuber und andere Märchen
Hg. und mit einem Nachwort von Hanno Loewy.
Ausgewählte literarische Werke in Einzelausgaben, vierter Band.
Mit vierzehn farb. Illustrationen von Mariette Lydis.
196 Seiten, engl. Broschur, Fadenheftung, 19,80 Euro.
ISBN 978 3 93110937 0
Am Anfang waren die Märchen. Der „ungarische Dichter und deutsche Schriftsteller“ Béla Balázs schrieb 1910 an seinen Freund Georg Lukács: „Alles ist der gleiche Stoff: Gefühl und Landschaft, der Gedanke und die sich rings um mich vollziehenden Ereignisse, Traum und Wirklichkeit … Darum schreibe ich Märchen. Auch diesseits ist Märchen Wirklichkeit.“
Es wurde das Lebensprogramm des Erzählers, Filmpioniers und romantischen Revolutionärs.
Unsere Ausgabe ist die späte Wiederentdeckung seiner „exotischen, erotischen“ Märchensammlungen von 1921/1922, aus den Wiener Exiljahren (nach der gescheiterten ungarischen Räterepublik).
Eines Nachts, als sie im Gartenhause aus blaßgrüner Jade schlief und ihr Bett auf den Wogen des Duftes schwankte wie ein Boot auf dem Rücken des Stromes, da sah sie den Kaiser Ming-Huang. Er hatte einen herrlichen Mantel an, auf den alle Bilder ihrer Träume gestickt waren. … Das ganze Traumland, nach dem ihre Seele sich sehnte, trug er auf seinem Mantel. Da ergriffen Entzücken und Glück das Herz Näi-Fes. Denn sie konnte auf den Kaiser schauen und mußte nicht wählen zwischen dem Weg ihrer Träume und dem Weg ihrer Liebe.
Diese Rezension von Thomas Mann stand am 21. Mai 1922 in der Wiener Neuen Freien Presse:
Ein schönes Buch
Ich blättere soeben in einem schönen Buch […] Es ist ein Geschichten- und Bilderbuch, enthaltend sechzehn „Chinesische Novellen“ von Béla Balázs, mit zwanzig Aquarellen von Mariette Lydis, ein Name, fremd meinem Ohr bis dato, während der des ungarischen Verfassers mir schon durch seine Sieben Märchen, auf die kein Geringerer als Georg Lukács, Autor jener erstaunlichen Theorie des Romans, mich aufmerksam machte, sehr ernstlich bekannt war. Ein illustriertes Buch also, dieser „Mantel der Träume“? Jawohl. Nur daß die Sache nicht wie gewöhnlich liegt. Sie liegt verkehrt herum: nicht die Geschichten sind illustriert worden, es geschah mit den Bildern; diese waren das künstlerisch Gegebene, und die Novellen sind Stegreiferfindungen angesichts ihrer, reine Gelegenheits-dichtung also, fabelnde Deutungen höchst launenhafter Vorlagen, und in dieser Eigenschaft wirklich bewunderns-würdig.
Denn man muß festhalten, daß die Künstlerin ihrem literarischen Illustrator keine leichte Aufgabe gestellt hat. Welche barocken Träume, grotesken Szenen, gespenstisch-lächerlichen, sonderbaren und schaurigen Einfälle!
Es angelt ein Zopfträger von skurriler Haltung bei Mondschein in einem Weiher; hinter der Silhouette eines Kastanienzweiges geschieht ein Mord; Gelehrte mit langen Fingernägeln reiten auf einem Zweihufer durch die Bläue; ein hingestreckter Mann empfängt die Bastonade, sein Gesäß ist blutig, sein Peiniger sieht behaglich drein; ein Mann rennt, und an seinem Hals sind vier Totenschädel befestigt, die ihn jagen […]; und so weiter. Das alles ist merkwürdig, originell und unheimlich. Aber es war viel verlangt, sich einen Vers darauf machen zu sollen.
Balázs hat sich eine höchst passende Prosa darauf gemacht, die zivilisiert und einfältig ist zugleich und recht gut Laotse selbst, das „alte Kind“, zum Verfasser haben könnte, von dem eine der Geschichten handelt und der die Götter lehrt: Der Leib des Kindes ist jung, / Aber der Geist des Geschlechts ist alt in ihm […] – die Märchen des Ungarn sind mit dem Geist dieser greisen, klugen und infantilen Menschlichkeit tief und liebevoll vertraut. Was ich aber namentlich bewundern wollte ist, wenn man mir diese Wortverbindung erlaubt, die dichterische Geschicklichkeit, die glückliche Erfindung, der metaphysische Tiefsinn, womit sie die Phantasien der Malerin auslegen und umspinnen. Jede der Exzentrizitäten, die ich vorhin aufzählte, ist, man überzeuge sich, auf die geistreichste, überraschendste und erfreulichste Weise novellistisch gedeutet; mit dem Manne zum Beispiel, den die Totenschädel jagen, steht es so, daß es seine Ahnen sind, die sich an ihn heften, die „durch ihn ihr Ziel erreichen wollen“ und ihn dahin und dorthin zerren, bis er unter dem Widerstreit ihrer unerbittlichen Befehle zusammenbricht und sie ihn auffressen, so daß „gar nichts von ihm übrigbleibt“ […] Ich empfehle dem Leser, sich mit dem schönen Buch in guter Stunde zu beschäftigen.
© S. Fischer Verlag
Béla Balázs (ursprünglich Herbert Bauer), geboren am 4. August 1884 in Szeged, gestorben am 17. Mai 1949 in Budapest.
„Ich bin ein ungarischer Dichter, der seit zwanzig Jahren deutscher Schriftsteller ist“, umschrieb Béla Balázs im Moskauer Exil 1940 seine literarische Biographie. An ihrem „deutschen“ Anfang – zu Beginn der 1920er Jahre in Wien – stehen die fast unbekannten, hier teilweise überhaupt zum ersten Mal veröffentlichten Feuilletons: Reflexionen über die tägliche Entstehung der Welt aus unsern Sinnen und Träumen. Balázs schrieb – seit 1923 in der Wiener Nachkriegszeitung Der Tag, in der Nachbarschaft von Alfred Polgar – über Kunst und Theater, über Maskenspiele und Puppen, über das Schielen der Sinne und die Magie des Weihnachtsbaums, über die Dauer einer Sekunde und über russische „Juden unterwegs“ nach Palästina.